Hitlergruß, Rassismus, Gewalt: BFC-Problemfans suchen gegen Chemie die große Bühne

Beim Auswärtsspiel gegen den BFC Dynamo geriet die 0:2-Niederlage zur Nebensache. Rassistische Beleidigungen und tätliche Angriffe gegen Spieler, Trainer und Fans der BSG Chemie Leipzig weckten Erinnerungen an finstere Zeiten. Alles halb so wild, meint man beim BFC. Und genau das ist das Problem.

Mit dem Schlusspfiff entlud sich alles, was sich vorher angestaut haben musste. Es flogen Bierbecher und Fahnenstangen, auf dem Platz gerieten sie außer sich und auf den Rängen fragte sich mancher, was plötzlich los ist, bis schließlich Pfefferspray den Blick vernebelte. Es hatte sich nicht angedeutet an diesem Nachmittag in Hohenschönhausen, der fast schon verdächtig friedlich daherkam. Es war die Ruhe vor dem Sturm, und der sollte alles mit sich reißen, so dass die schwergängigen 90 Minuten sehr schnell in Vergessenheit gerieten. Wer während des Spiels zufällig am örtlichen Sportforum vorbeikam, hätte kaum gemerkt, dass eines der legendärsten Duelle des Fußball-Ostens auf dem Plan stand. BFC gegen Chemie, Stasi-Günstlinge gegen feindlich-negative Elemente, Hools gegen Ultras, Rechts gegen Links. Die Projektionsfläche könnte kaum größer sein, und doch lieferten sich beide Mannschaften einen eher langweiligen Kick, und selbst auf den Rängen ging es längst nicht so hoch her wie in früheren Zeiten. Zumindest bis zum Schlusspfiff. Und dann brach alles wieder auf.

Chemie auf dem Zahnfleisch, der BFC nachlässig

Aber der Reihe nach. Hätte man mir vor dem Spiel gesagt, dass Chemie beim souveränen Tabellenführer 0:2 verliert, hätte ich das schulterzuckend zur Kenntnis genommen. Aber es kam anders, wie so oft. Chemie spielte nicht gut, aber der BFC tat sich ebenfalls schwer. Unsere ersatzgeschwächte Mannschaft ging auf dem Zahnfleisch. In der Schlussphase sollten ausgewiesene Defensivakteure den knappen Rückstand in etwas Zählbares verwandeln. Zweimal hatten sie den Ausgleich auf dem Fuß. Es wäre ein dreckiger Punkt gewesen, aber der nachlässige Gegner hätte sich darüber nicht beschweren können. Doch in der Nachspielzeit erhöhte der BFC auf 2:0 und besiegelte unsere Niederlage. Der Torschütze wandte sich bedeutungsvoll in Richtung unseres Blocks, legte den Zeigefinger auf den Mund und gab uns zu verstehen, dass wir jetzt endlich Ruhe geben sollten. Natürlich hatte unser Block unsere Mannschaft über die gesamte Spielzeit angetrieben. Und ich muss zugeben, dass mich diese aus hitzigen Begegnungen nur zu bekannte Jubelgeste getriggert hat. Ich ärgerte mich, und vielen im Block ging es auch so, einige sprangen auf den Zaun. Alles nichts, worüber man sich aufregen müsste.

Einmal abgesehen von dem Liedgut, mit dem unsere Kurve die traditionelle Abneigung gegenüber der Hauptstadt („Berlin, Berlin, wir scheißen auf Berlin) und dem DDR-Rekordmeister („Ah, ha, ho, he – Wir hassen den BFC) zum Ausdruck bringt, war uns wirklich nichts vorzuwerfen. So viel Gleichmut war selten, und das meine ich nicht negativ. Mir hat es imponiert, mit welcher Gelassenheit der grün-weiße Gästeblock dieses Hassduell vergangener Tage angegangen war.

„Schwuchteln, „Zigeuner, „Juden

Nur beruhte das offenbar nicht auf Gegenseitigkeit. Schon in der ersten Halbzeit gab es in den angrenzenden Heimblöcken immer wieder Provokationen, die jedoch weitgehend verpufften. In der Pause wurde jemand von der Polizei wegen eines Hitlergrußes rausgezogen. Erst später wurde klar, dass das Heimpublikum immer nervöser wurde, als Chemie kurz vor Schluss auf den Ausgleich drängte. In der 85. Minute schallten Affenlaute durch das Sportforum. Im Gästeblock waren sie nicht vernehmbar, aber in der Live-Übertragung von Ostsport-TV. Die rassistischen Anfeindungen galten Chemie-Spieler Benjamin Luis, der kurz vor Schluss eingewechselten wurde. Und auch Trainer Miroslav Jagatic muss derartige Beleidigungen über sich ergehen lassen, wie sich später herausstellte. Laut einem Augen- und Ohrenzeuge ging der Nazi-Pöbel nach dem zweiten Tor auf der Gegengerade steil und in Richtung der BSG Chemie fielen die Worte „Zigeuner, „Schwuchteln und „Juden, ein Heimzuschauer entblödete sich zu rufen: „Wegen Untermenschen wie euch wähle ich AfD.“ Ein Hopper berichtete uns, er habe noch nie ein derart flächendeckend rassistisches und antisemitisches Publikum erlebt wie bei diesem Spiel.

Unser Coach war der erste in der Kurve – und voller Wut

Das alles wusste ich noch nicht, als der Schiri abpfiff und ich mich über den verschenkten Punkt ärgerte, wäre er auch noch so glücklich gewesen. Aber etwas war anders. Zwar suchte die Mannschaft wie immer den Weg zum Chemie-Block, um sich für den Support zu bedanken. Nur ging einer entschlossenen Schrittes voran, der sonst lieber im Hintergrund bleibt: Miroslav Jagatic. Als er die Kurve erreichte, verstummten die Gesänge. Er rief uns etwas zu, wir verstanden es kaum. Nur so viel: Im Rückspiel, machte er deutlich, schlagen wir die. Unser Applaus war kurz, aber voller Stolz.

Mit Sand und Steinen gefüllte Bierbecher als Wurfgeschosse

Dann überschlugen sich die Ereignisse. Im Nachbarblock hatten sich die üblichen Verdächtigen aufgebaut: Typen mit vielen Muskeln und wenig Haaren. Einer buchstabierte Lauthals den Namen des Leipziger Stadtrivalen, auch das nahm man in unserer Kurve noch mit einem Lächeln hin. Dann stürmten die ersten auf unseren Block zu, sie kamen von allen Seiten, aus den angrenzenden Blöcken, über den Rasen. Von der Polizei war weit und breit nichts zu sehen, es kam zu Scharmützeln am Zaun. Mit einem Mal bemerkte ich, wie unsere Spieler, die in Richtung der Trainerbänke zurückgegangen waren, in heftige Wortgefechte verwickelt wurden. Plötzlich hagelte es mit Sand und Steinen (!) gefüllte Bierbecher und Fahnenstangen auf unsere Mannschaft, in unserem Block schoss der Puls hoch. Es ging hin und her, und dann sah ich, wie unser Trainer wutentbrannt in Richtung BFC-Block stürmte und von Betreuern zurückgehalten werden musste. Dabei hätte ich fast übersehen, wie unser Spieler Anton Kanther von einem Polizisten beinahe niedergerungen wurde, weil er für einen aufs Spielfeld gelaufenen Fan gehalten wurde – dabei hatte er nur seine mitgereiste Familie schützen wollen, denen die finsteren Gestalten im angrenzenden Heimblock bedrohlich nahegekommen waren, die das ganze mit Pöbeleien und Gejohle kommentierten.

Polizei schaut erst zu – und setzt dann Pfefferspray im Chemie-Block ein

Zu dem Zeitpunkt war die Situation längst völlig eskaliert. Die Polizei, anfangs noch völlig tatenlos, hatte sich ausgerechnet vor und in unserem Block postiert und ohne Vorwarnung Pfefferspray gegen unsere Fans eingesetzt. Dabei waren alle Bedrohungen von den Heimrängen ausgegangen. Dass wir uns nicht auf die Hilfe der Staatsmacht verlassen können, ist das eine, aber dass wir nicht nur von den Befis, sondern auch den Cops angegriffen wurden, ist das andere, und das voll bitterer Ironie. Ein Satz, den ich im Block vor dem Hintergrund der vielen hitzigen Duelle mit dem BFC öfter hörte, gerade von den Älteren, war: „Es ist ja alles wie früher.“ Und ich dachte mir, während eine hochauflösende Kamera unseren Block abfilmte: Wie soll man es Fußballfans ernsthaft verübeln, wenn sie „All Cops Are Bastards“ skandieren?

Coach Miro Jagatic prangert Rassismus an, sein Gegenüber Christian Benbennek relativiert und verharmlost

Nach dem Spiel setzten sich die Puzzleteile nach und nach zu einem stimmigen Bild zusammen. Im Field-Interview machte Miro Jagatic die rassistischen Angriffe auf Spieler und ihn öffentlich. „Ich habe so was nicht verdient, ehrlich nicht“ – um daraufhin vom Interviewer hören zu müssen, er wollte trotzdem beim Sportlichen bleiben. Auch in der anschließenden Pressekonferenz thematisierte Jagatic die Anfeindungen. Aber sein Gegenüber, BFC-Trainer Christian Benbennek, hielt dagegen, er würde in Cottbus oder Leutzsch auch pausenlos beleidigt, da müsse man drüberstehen. Ich rechne es Miro hoch an, dass er sich noch in der Pressekonferenz dafür entschuldigt hat, wie er spontan und voller Wut auf dem Platz reagiert hatte. Wir kennen ihn als emotionalen Menschen, aber negative Emotionen, das passt wirklich nicht zu ihm. Mir wäre es in dieser Situation schwer gefallen, so viel Professionalität an den Tag zu legen. Ich habe höchsten Respekt vor Miro, vor ihm als Trainer und als Menschen. Und ich finde es gut, dass er nicht geschwiegen, sondern Klartext gesprochen hat. Umso befremdlicher ist das Muster aus Verharmlosungen und Relativierungen, die aus dem BFC-Lager entgegenschlagen. Nein, Nazi-Scheiße muss man nicht aushalten, man muss sie bekämpfen. Mit den Vorfällen war eine rote Linie überschritten, und es tut gut zu wissen, dass unsere Spieler und unser Trainer das grün-weiße Leitbild so sehr verinnerlicht haben, dass sie auf und neben dem Platz dafür eintreten.

Zeitreise in die Baseballschlägerjahre

Ich musste lange überlegen, um mich an ein Stadionerlebnis zu erinnern, das mich ähnlich wütend, bedrückt und ohnmächtig zurückgelassen hat. In Halle 2006, als „Wir sind Ade!“ geboren wurde. Oder bei einem der vielen Nazi-Überfälle zu Kreisklasse-Zeiten. Oder um die Jahrtausendwende, als ein auswärtiger Schläger direkt vorm Alfred-Kunze-Sportpark den Baseballschläger aus dem Wagen holte und wir die Beine in den Hand nahmen – es waren die Spätausläufer der #Baseballschlägerjahre. Ja, das Auswärtsspiel in Hohenschönhausen war eine Zeitreise in die dunklen Neunzigerjahre, nicht nur, weil der Stadion-DJ Eurodance und Techno auflegte. Es war jene Zeit, als Affenlaute in allen Stadien an der Tagesordnung und die Kurven rechts offen bis offen rechts waren. Als beim FC Sachsen voller Inbrunst das „Führer-Lied“ und „Nur ein Leutzscher ist ein Deutscher“ gesungen wurde, ohne dass sich die Mehrheit daran gestört hätte. Der BFC Dynamo scheint in dieser Zeit steckengeblieben zu sein, und ich bin wenig zuversichtlich, dass sich das jemals ändern wird.

Nachtrag vom 13. September 2021, 16:44 Uhr:

Videos aus dem Heimblock widerlegen die Darstellung des BFC Dynamo, wonach Provokationen und Aggressionen von Seiten der BSG Chemie Leipzig ausgegangen seien.