Die Auswärtsfahrt, die mein (Fußball-)Leben veränderte

Es ist auf den Tag genau zwei Jahre her. Die BSG holte gerade Sieg nach Sieg nach dem Abstieg in die Oberliga. Ich selbst war kaum ein halbes Jahr bei Chemie zugange. Ein halbes Jahr ist zwar keine allzu lange Zeit, aber eben auch nicht wenig. Und dennoch kannte der introvertierte blonde Junge ohne Bartwuchs noch niemanden in Leutzsch. Was – wie erwähnt – auch an mir selbst lag. Im Sommer 2018 beendete ich die Schule, fing eine Ausbildung an, und brach diese nach knapp 2 Monaten ab, da man mich dort behandelte wie einst Joachim Löw Thomas Müller, Jerome Boateng Mats Hummels. Also war ich am 30.09.2018 nicht nur der Introvertierte, sondern auch der Pubertierende Junge ohne Selbstbewusstsein oder Ausbildungsplatz. Es war keine einfache Zeit für mich.

Das einzige was mich bei Laune hielt waren meine Freunde und der Fußball. Das Pokalspiel gegen Regensburg sog ich vollends auf (schließlich sah ich Kai Druschky – mit dem ich damals dieselbe Berufsschule besuchte – in der 91. zum Siegtor treffen) und schöpfte daraus neue Kraft. Beim Heimspiel gegen Jena II stand ich das erste Mal im Stimmungsblock des Norddamms. Auch das beeinflusste mich nachhaltig. Nebenbei prangerte an diesen Tag am inneren Zaun des Norddamms ein Transparent, dass das Auswärtsspiel am kommenden Wochenende beim VfL Halle 96 bewarb. An den genauen Wortlaut oder an die Treffzeit kann ich mich nicht mehr erinnern. Aber es sollte meine erste Auswärtsfahrt mit Chemie werden.

Ankunft am S-Bahnhof „Halle-Zoo“ | Bild: Diablos

Anscheinend hatte ich am Vorabend des Spieltages so viel Vorfreude dass ich einen kurzen Tweet absetzte. So wirklich war ich noch nicht in – der damals schon existenten – chemischen Twitterbubble angekommen. Der User „Bullster“ antwortete trotzdem unter meinen Tweet. Per DM verabredeten wir, dass wir uns am Treffpunkt Hauptbahnhof sehen. Und nur etwas später als zur ausgemachten Zeit, stand er da. Braune Jacke, schwarzer Chemie-Turnbeutel, mit einer Ausstrahlung als hätte er alles mit Chemie gesehen was man sehen kann. Ich stellte mich zögernd vor und wir begannen mit den üblichen Kennenlern-Gespräch. Ich gab mein Bestes so zu tuen als wäre ich nicht allzu sehr introvertiert. Nur wenige Minuten später, als die aktiven Fans das Signal gaben zum Gleis nach Halle zu gehen, hatte ich bereits das Gefühl als würden wir uns schon länger kennen, als wäre das gerade nicht unsere erste gemeinsame Auswärtsfahrt.

Der Zug war – wie bei jeder chemischen Zugfahrt – brechend voll. Da es auch ziemlich warm war, war die Luft im Zug rasch nicht mehr die beste. Auch dem Tabakkonsum und dem Verzehr alkoholischer Getränke geschuldet. Nichtsdestotrotz wurde von allen Chemikern Rücksicht auf die anderen Fahrgäste genommen. Auch das imponierte mir. Wir verbrachten die Zeit mit Dummgebrabbel und dem Verköstigen von Gerstenkaltschalen.

Wir kamen ungefähr ein Stunde vor Anpfiff an der Hallenser S-Bahn-Haltestelle „Zoo“ an. Gesammelt liefen wir ein paar Minuten zu Fuß gen Gästeblock des wunderschönen „Stadion am Zoo„. Fix noch eine Eintrittskarte geholt und ab ging es an den Bierstand. Beim Betreten des Gästeblocks bemerkten wir aber dass dieser bereits sehr gut gefüllt war. So nahmen wir – um was zu sehen – auf einem Geländer am Rande des Gästeblocks platz. Gemütlich war das ganze natürlich nicht, gerade auch weil ich des öfteren von der Brüstung rutschte und wieder hoch klettern musste. Meiner guten Stimmung tat dies aber keinen Abbruch. Beim Einlauf wurde noch ein kleine Choreographie gezeigt, bestehend aus grünen und weißen Papierstücken und mittendrin eine kleine Blockfahne mit der Aufschrift „Chemie“. Auch auf dem Platz lief es, ein 0:5 Auswärtssieg fuhren wir an diesem Tage ein, aber das sportliche war für mich Nebensache.

Eine kleine Choreo durfte auch nicht fehlen! Bild: Diablos

Nach dem standesgemäßen Feiern der Mannschaft, torkelten wir zum Ausgang des Gästeblocks. Gerade auch weil mein 16jähriges Ich wohl ein wenig zuviel vom Gerstensaft ausgegeben bekommen hat. Als wir dann endlich die Haltestelle gen Leipzig erreichten (das Schönste an Halle ist halt immer noch das Gleis nach Leipzig), erfuhren wir dass wir noch knapp eine halbe Stunde totschlagen mussten. Mit uns warteten allerdings auch einige andere Chemiker, und so nahmen wir aus Platzgründen wieder auf einem Geländer platz. Das waren wir ja jetzt gewohnt. In der Wartezeit tauschten wir uns über das Spiel, den Verein und Fanszenen allgemein aus. Wie im Fluge verging die Zeit und der Zug nach Leipzig kam und plötzlich waren wir wieder in der schönsten Stadt der Welt. Am Ende des Tages hatte ich nicht nur einen neuen, sehr guten Freund gewonnen, sondern auch die Erkenntnis, dass ich hier richtig bin.

Am nächsten Morgen saß ich etwas verkatert, aber überglücklich in der Berufsschule und musste an das gestrige zurückdenken. An die Bahnfahrt, an das Geländer oder an den fantastischen 0:5 Auswärtssieg. Heute – 2 Jahre später – denke ich noch immer gerne an diesen Tag zurück. Letztendlich kann man natürlich nicht wissen, ob mein Leben ohne diesen Tag in der Form anders verlaufen wäre, aber ich bin mir aber sicher dass dieser Tag mit den Ereignissen ausschlaggebend für meinen weiteren Weg in Leutzsch war. Es dauerte zwar knapp ein halbes Jahr bis zu meiner nächsten Auswärtsfahrt – gar noch eine Woche länger bis zu der nächsten Auswärtsfahrt mit „Bullster“ – aber ich fühlte mich endlich angekommen und dazugehörend!

Das besagte, legendäre Geländer! | Bild: Europlan