Der Versuch einer unbedachten Positionierung oder: Warum die Regionalliga mit Zuschauer*innen weiterspielen sollte

Die Regionalliga Nordost sollte alles dafür tun, dass künftig auch bei einem erneuten Lockdown der Ball rollt – und zwar vor Zuschauer*innen.  

Sicher gebe ich @Chemieblogger recht, dass eine Online-Vermarktung zusätzliche Einnahmequellen erschließen kann. Die Anstrengungen von Vereinen und Verbänden sollten aber darin liegen, den Fans ein Live-Erlebnis zu ermöglichen. Wie schon die Sängerin Mine in ihrem Quarantäne-Video schreibt: Kunst geht auch ohne Publikum, Kultur aber nicht!  

Dies gilt natürlich auch für die gesamte Kultur- und Sportszene. Ich beschränke mich hier aber erst einmal auf den Fußball in der Regionalliga, in der unsere BSG Chemie Leipzig spielt. Erfolgreich. Und als amtierender Derby-Sieger!  

Wir haben, wie bereits erwähnt, im Kreise der Autoren des „Chemischen Elements“ an- und aufgeregt über die Situation unter der Corona-Pandemie diskutiert. Dem @Chemieblogger entgegnete @tasmane1985, dass Geisterspiele keine Option sind. Ich möchte nun eine dritte Position aufzeigen. Persönliche Betroffenheit oder fehlende Nachvollziehbarkeit der Maßnahmen emotionalisieren den notwendigen Dialog. Ich bin froh, dass dieser trotzdem möglich ist und wir uns in der Ablehnung von Verschwörungserzählungen und Lügengeschichten einig sind. Niemand braucht „Covidioten“ und ihre parlamentarischen Finger.  

Zurück zum Fußball. Ich denke, es wäre möglich gewesen, die empfohlenen Hygiene-Maßnahmen ernster zu nehmen und besser umzusetzen. Und zwar unabhängig davon, ob dies gerade Verpflichtung oder reine Vorsicht ist. Doch anscheinend fehlt es an Einsicht und Umsetzungswillen. Ich erinnere mich dabei an die letzten Bilder, die der MDR zur Regionalliga Nordost ausstrahlte: Der überwiegende Teil der Fans steht bei den Spielen in Meuselwitz, Halberstadt oder Rathenow ohne Mund-Nasen-Bedeckung im Stadion. Dabei wäre diese Maßnahme ja ohne weiteres um- und durchsetzbar. Auch weitere „allgemeine Hygienemaßnahmen“ könnten nicht nur das Stadionerlebnis, sondern auch die Gesundheit erhalten. So hätten beispielsweise ordentliche Wasch- und Desinfektionsmöglichkeiten einigen Sportanlagen schon viel früher gut getan.  

Der überwiegende Teil der Stadien und Sportplätze bietet ausreichend Möglichkeit, um Abstände zu wahren, Cluster zu bilden und auch Gästefans (denn die gehören ja unbedingt dazu) zuzulassen – und das unter freiem Himmel. Und ja, dies funktioniert nicht ohne Einschränkung und würde unter erhöhten Corona-Zahlen nicht mit „vollem Haus“ gehen. Damit werden wir uns aber abfinden müssen und dies ist aus meiner Sicht alternativlos.  

Unabhängig davon heißt es aber in den Corona-Schutz-Empfehlungen für Läden: „Maximale Anzahl Besucher*innen = Verkaufsfläche [in m²] / 10 • Die Verkaufsfläche ist die von der Kundschaft begehbare Fläche – ohne Lagerbereiche und Sanitärräume.“ Warum können solche Maßgaben nicht auch ähnlich in anderen Bereichen Anwendung finden? Ja, ok, natürlich sind die wenigstens Menschen zwei Stunden lang im Supermarkt – aber beschränkt wäre die Zeit theoretisch da ja auch nicht. Abgesehen davon ist die Infektionsgefahr im Freien nachweislich geringer. Virologe Christian Drosten  geht davon aus, dass rund 20 Prozent der Infizierten bei sogenannten Superspreading-Events für 80 Prozent der Weiterverbreitung verantwortlich sind. Berichtet wurde dabei zum Beispiel von Gottesdiensten oder Karnevalsveranstaltungen … Sportveranstaltungen in Deutschland wurden bisher nach meiner Kenntnis nicht erwähnt.  

Alles, was den Fußball – wie wir ihn lieben – ausmacht, hängt von der Teilnahme der Fans ab. Und ich will mich nicht daran gewöhnen, dass es anders sein kann. Mit der TV-Vermarktung kommen weder die tollen Choreo-Bilder aus den Stadien, noch liegt der Duft der Verpflegungsstände in der Luft und schon gar nicht höre ich die pöbelnden Fußball-Expert*innen ihre steilen Thesen über den Platz wabern. Wer sich das nicht zurück wünscht, ist nicht zu verstehen – oder hält auf die falschen Vereine. Und gerade wir als Fans der BSG Chemie Leipzig wissen, wie sehr wir uns gegenseitig unterstützen. Allein die Erinnerung, wie wir das Team zu Pokalsensationen gepeitscht haben, kann nur einen Schluss zulassen: Die Fans sollten zurück in die Stadien. Dafür braucht es ernsthafte Überlegungen und wirtschaftliche Hilfen von Land und Bund.   

Die oft bemühte Parole „Mit Solidarität durch die Krise“ lässt mich aufmerksam zu Menschen schauen, für die viele Maßnahmen eine starke psychische Belastung darstellen. Dabei darf die gesellschaftliche Verantwortung, welche gerade Amateurvereinen zukommt, nicht unterschätzt werden. Ganz im Gegenteil. Häufig fehlen ihnen aber die ausreichende politische Anerkennung und die bereits angesprochene finanzielle Unterstützung. Beides wäre auch nötig, um die erforderlichen Maßnahmen zur Einhaltung der Hygienemaßnahmen zu treffen. Es könnte ebenso dafür sorgen, dass Vereine nicht durch so viele Menschen in prekären Arbeitsverhältnissen getragen werden. Ehrenamt ist gut und schön, aber warum sollen die Engagierten vor Ort nicht auch angemessen entlohnt werden. Wie der MDR aktuell berichtet, hat die Bundesregierung eine 600-Euro-Sonderzahlung beschlossen, zum Beispiel für Soldat*innen. Wieso nicht auch für Amateur-Sportler*innen? Oder noch besser: her mit dem bedingungslosen Grundeinkommen. Aber das ist ein anderes abendfüllendes Thema.  

Warum sich auf Bundesebene relativ wenig mit den Themen der Amateursportler*innen beschäftigt wird, beschreibt der Sportjournalist Anno Hecker folgendermaßen: „Das könnte daran liegen, dass der Sport auf Bundesebene zwar mit am Kabinettstisch sitzt. Doch er wird, anders als die Kultur mit Staatsministerin Monika Grütters, allein in Sachen Medaillenproduktion von Innenminister Horst Seehofer vertreten. Dieser mag die Vereine, wie er sagt. Aber im Moment hat er anderes zu tun.“ 

Ich komme noch einmal zurück zum Infektionsrisiko. In den Empfehlungen des RKI zur Bewertung von Großveranstaltungen wird beschrieben, wann ein erhöhtes Risiko entsteht. Dies trifft zum Beispiel zu bei einer großen Anzahl von Menschen mit hoher Dichte, Teilnahme von Menschen mit Symptomen, hoher Anzahl verschiedener Kontakte, schlechter Belüftung der Räume und begrenzten Möglichkeiten zur Desinfektion. Hier sehe ich fast in jedem Bereich Handlungsspielräume, um die Gefahren zu minimieren. Vorausgesetzt – und auch das spricht das RKI klar aus – es gibt die Bereitschaft von Veranstalter*innen zur Durchsetzung der Maßnahmen. Ich bin am (ver)zweifeln …  

Um grundsätzliches Verständnis für die Maßnahmen zu erreichen, fehlt es häufig an transparenten verständlichen Informationen für alle (!). Dies heißt auch für Menschen, die nicht ohne weiteres die deutsche Sprache verstehen. Auch hier können Sportvereine eine wichtige Vermittler- und Vorbildrolle einnehmen. Denn mal ehrlich, wer würde Stefan Karau widersprechen, wenn er „empfiehlt“, sich die Hände zu desinfizieren. Ihr versteht, was ich sagen will. Und natürlich ist damit nicht gemeint, dass den Aktiven nun noch mehr übergeholfen werden sollte. Ich denke, wir als BSG Chemie sind ein lobenswertes Beispiel und dies ist vielen Menschen zu verdanken – auch der Einsicht weiter Teile unserer Fanszene. Da kann ich auch einen kurzen jubelnden Gefühlsausbruch entschuldigen. Fußball ist Kultur, Kultur ist notwendig. Denn auch – oder gerade – in Krisen müssen wir aufpassen, dass wir nicht zu kultureller Verarmung kommen. Ich kann und will nicht akzeptieren, dass zwar keine 999 Zuschauer*innen unter „Masken-Pflicht“ in den Alfred-Kunze-Sportpark dürfen, in der gleichen Stadt aber tausende Corona-Leugner*innen auf ihr Grundrecht pochen und ohne Einhaltung sämtlicher Hygieneregeln ihre Verschwörungserzählungen verbreiten können.   

Natürlich weiß ich, dass in meinem Text viel Wunsch mitschwingt. Natürlich ist mir klar, dass auch die Gesundheit von Spieler*innen nicht außer Acht gelassen werden darf. Ich bin kein Arzt, kein Virologe und wenn der Verband der Intensivmediziner den neuerlichen Lockdown begrüßt, werden sie es nicht grundlos tun. Wenn in bestimmten Regionen Grenzwerte überschritten werden, dann können eben nicht 3000 Leute ins Stadion. Ganz davon abgesehen würde eine geplante Flexibilität den ohnehin viel zu straff gestrickten Spielplänen, und damit auch der Gesundheit der Spieler*innen, ohnehin gut tun. 

Soviel zu meinem Debattenbeitrag, der zur Vielfalt in unserer Diskussion dazu gehören soll. Wir müssen eine offene Debatte führen und dürfen kritische Positionen nicht der rechten Schwurfel-Blase überlassen. Diese braucht, wie das jüngst bekannt gewordene Lüth-Interview zeigte, Krisen und wird auch deshalb nichts daran setzen, ein solidarisches Miteinander zu fördern.  Spannend wäre unsere „Corona-Reihe“ durch Positionen eines Spielers, eines Trainers oder eben eines Vereinsverantwortlichen zu vervielfältigen. Vielleicht gelingt es uns ja …