Wie Sachsen zwei Chemies auffraß

Die Jahre des ostdeutschen Fußballs um die sogenannte Wende sind bisher wenig aufgearbeitet. In Leutzsch sieht die Datenlage verhältnismäßig gut aus, auch wenn so einige blinde Flecken bei der Recherche unübersehbar werden. Zur Vorgeschichte erfahrt ihr hier mehr.

Die Wirren der Gesellschaft, die übermütige Hoffnung auf das große Geld und die weite Welt, die Einflussnahme durch den Westen, die Inkompetenz im Verein zu jener Zeit und letztendlich die allgegenwärtige Gewalt der frühen Neunziger bedürfen noch mehr Aufarbeitung. Die Komplexität, die ich hier hoffentlich umreißen werde, zu durchdringen, wäre perspektivisch wünschenswert. Die Auswüchse dieser Zeit reichen bis heute. In Erfurt, Chemnitz, Köpenick oder Leutzsch. Der Ostfußball wurde auf Jahrzehnte abgehängt. Und die Verantwortlichen halfen vielerorts kräftig mit.

Anmerkung vorweg: Im folgenden Text befasse ich mich vor allem mit der sportlichen Geschichte der BSG bzw. des FCS um 1990. In Jens Fuges „Du bist der Schrecken aller Klassen“ könnt ihr euch zu der Problematik des Leutzscher Fan-Daseins jener Zeit belesen. Ich werde das Thema nur streifen, die Naziproblematik um die Wende möchte ich aber eingangs gerne zumindest einmal ansprechen:

Das Leutzscher Naziproblem um die Wendezeit analysiert Ray Schneider
Jens Fuge: Du bist der Schrecken aller Klassen. Chemie Leipzig und seine Fans. Band III. S. 8, Leipzig: Backroad Diaries, Text von Ray Schneider

Die Ausgangslage in der „Heldenstadt“ zur Wende

Die Saison 1989/90: Chemie Leipzig spielte in der zweitklassigen DDR-Liga, Staffel B (Süd). Nach einem ernüchternden sechsten Platz im Jahr zuvor will man in Leutzsch zurück in die Oberliga. Die Saison startet verheißungsvoll, einzig die Konstanz fehlt. Wenig überraschend, eingedenk jener Zeit. Der ärgste Konkurrent kommt ausgerechnet aus der Umgebung. Die BSG Chemie Böhlen, deren Trägerbetrieb der VEB Otto Grotewohl war, schloss die Staffel als erster ab und erhielt somit einen Startplatz in der Oberliga.

Die Saison endete zu Zeiten Kohls Zehn-Punkt-Plans, als die Grundlagen für den späteren Niedergang des Ostfußballs beschlossen wurden (später mehr) und der Anschluss der DDR an die BRD kurz bevor stand.

Der letzte Meistertitel eines Leipziger Teams lag damals 26 Jahre zurück. Gedankenspiele über eine Fusion der drei größten Vereine kamen auf. Der Widerstand aus Probstheida und Leutzsch war aber unüberwindbar.

Diskussionen um den Namen Chemie begannen bei unserer BSG. Jens Fuge beschreibt in seinem Buch, dass damals schon, neben den Problemen um den sozialistischen Klang, auch Umweltdiskussionen aufgekommen seien. Letztendlich benannte sich der Verein um und hieß „Grün-Weiß Leipzig“. Nur ein Spiel wurde unter diesem Label ausgetragen. Beim Spiel von Grün-Weiß am 01.07.1990 gegen Suhl (1:2) war Hans-Jörg Leitzke erster und einziger Torschütze für den Verein.

Die Fusion zum FC Sachsen

Der Zusammenschluss aller Vereine aus dem Leipziger Raum jener Zeit – beider BSGs aus Leutzsch und Böhlen und der Blau-Gelben – kam wie erwähnt nicht zu Stande. Die beiden chemischen Teams verbanden sich dennoch am 27. Juli 1990 zum FC Sachsen, der in der letzten Oberligasaison um den Profifußball, wenn nicht gar um die Bundesliga mitspielen wollte. Inwiefern dieser Zusammenschluss nicht auch eine Notwendigkeit des beginnenden Exodus der Fußballer im speziellen bzw. der Menschen im Allgemeinen aus dem Osten war, darüber mag ich nicht spekulieren. Denkbar ist es allemal.

Der erste Trainer des FC Sachsen war Jimmy Hartwig. Nicht nur war er der erste westdeutsche Trainer im Osten, er war dazu schwarz. Liest man in Fuges Buch, mag man sich nur leidlich vorstellen, was das für ihn hieß. Die chemischen Grundsätze heutiger Zeiten sind, darauf kommen wir noch, Errungenschaft jahrelanger Kämpfe. Anfang der Neunziger zeichnet sich ein konträres Bild. Der antikommunistische Gestus der Kurve aus DDR-Zeiten überträgt sich in die BRD. „Nur ein Leutzscher ist ein Deutscher“, Reichskriegsfahnen und NS-Jargon durchziehen den Georg-Schwarz-Sportpark. Sympathiebekundungen für die Republikaner sind keine Seltenheit und als Hartwigs Team in der Oberliga die zweite Bundesliga zu verpassen droht, halten sich die Leutzscher Nazis nicht einmal beim eigenen Trainer zurück. Jener wird mitten in der Saison gefeuert und lehnt eine Interviewanfrage zu jener Zeit, wenig überraschend, ab.

Die Wende-Saison 1990/91: Bye, Bye Oberliga

Für die Bundesliga Saison 1991/92, in der einmalig 20 Teams starten, qualifizieren sich aus der Oberliga der Meister und der Vize. Die Plätze drei bis sechs kamen in die zweigleisige zweite Bundesliga und sieben bis zwölf spielten mit den beiden Meistern der DDR-Ligen in zwei Aufstiegsrunden zwei weitere Plätze aus. Acht Teams im Profifußball waren also vorgesehen.

Erstmals seit 1961 sind in dieser letzten Oberligasaison Ausländer spielberechtigt. Der entsprechende Beschluss, der die Spitzenförderung von DDR-Fußballern sichern sollte, hatte übrigens nicht für die DDR-Liga gegolten.

Kurios ist, dass Erfurt und Halle sich über die Oberliga für den UEFA-Cup und Eisenhüttenstadt für den Pokal der Pokalsieger qualifizierten, nicht aber für die Bundesliga: Drei Europacupteilnehmer in Liga zwei dürfte ein einmaliges Ereignis in der Geschichte des Europapokals sein. Erfurt erreichte gar die zweite Runde, in der man gegen den späteren Sieger Ajax mit Edgar Davids, Frank de Boer und Dennis Bergkamp unter Trainer Louis van Gaal ausschied.

Die weitere Geschichte ab der Wende liest sich wenig rosig: Nach der Saison 91/92 spielte nur noch Dynamo in der Bundesliga, FCC, CFC, Hansa und VfB mussten in die zweite Liga, damals 24 Mannschaften stark.

Der FC Sachsen schaffte es ’91 letztendlich in die Qualifikationsrunde zur zweiten Bundesliga, scheitert dort aber krachend: unter anderem verliert man 0:4 am Südfriedhof. Den Leutzschern gelingt es nicht, in den dann gesamtdeutschen Profifußball vorzustoßen. Weder 1991, noch jemals danach.

„Blühende Landschaften“? Die Realität des Marktes nach der Wende

Die Träume sind groß. Im Leutzscher Holz soll ein Sportkomplex entstehen, der diverse Sportarten vereint. Man wähnt sich im Vorteil zum Areal am Cottaweg und dem vermeintlichen Millionengrab Zentralstadion. Was es dafür bräuchte: Investoren, die man schon in England gefunden zu haben meint. Und bessere Sanitäranlagen, Infrastruktur. Dass letztere heute noch Themen sind, sagt viel über die Visionen jener Zeit aus, die über ein gutes Jahrzehnt illusorisch waren und den Verein letztendlich ruinierten. Und auch unserer BSG heute noch nachhängen – die Investitionen im Leutzscher Holz blieben lange aus. Wie wir heute wissen, wäre ein Flutlicht wohl besser gewesen als die Verpflichtung eines Eduard Geyer. Oder ein Umzug in die Arena unter Kölmel.

Nur wem mag man es verdenken, überheben sich bis heute Vereine in Hoffnung auf die blühenden Landschaften des Profifußballs. Ob im Ruhrpott, in der Pfalz oder in Thüringen und Karl-Marx-Stadt.

Überholt, ohne je aufzuholen

Eine zentrale Figur jener Jahre ist Hans-Georg Moldenhauer, erster Präsident des NOFV. Noch 2015 wollte er den Anschluss des DDR-Fußballverbands DFV an den DFB als Erfolgsgeschichte verkaufen, die durch den von ihm forcierten schnellen Ablauf befördert worden sei. Die Integration der Toptalente der Nachwuchsarbeit der 80er Jahre aus dem Osten (Kirsten, Sammer, Thom, Doll, Rösler etc.) in die Westvereine sah er bereits 1994 als Gewinn. Von der Arbeit der Sportförderung im Osten profitierten nur lediglich die Vereine im Westen: Der Hamburger SV generierte mit dem Verkauf von Thomas Doll zu Lazio 1991 15 Millionen D-Mark. Der FC Hansa als Ausbildungsverein ging leer aus und auch der BFC Dynamo war an diesem Geldsegen kaum beteiligt und erhielt ein Jahr zuvor nur eine Million D-Mark vom HSV. In Hamburg entledigte man sich hingegen vieler Verbindlichkeiten.

Noch fataler war die Situation der Betriebssportgemeinschaften. Der strukturelle Nachteil, den der FC Sachsen geerbt hatte, konnte nicht ausgehebelt werden.

Mit der Gründung der Fußballclubs 1966 wurden die BSGs abgehängt. Nach der sensationellen Meisterschaft 1964 gewann Chemie in jenem Jahr zwar noch einmal den FDGB-Pokal. Dieser Titel blieb aber der letzte für eine BSG, sieht man vom Sonderfall Zwickau ab. Mit der Wende wäre es an den ehemaligen Trägerbetrieben gewesen, ihre BSGs, die jetzt unter neuen Namen firmierten, zu unterstützen.

Geldprobleme und Lizensierungspleiten

Das Problem: Die Volkseigenen Betriebe (VEB) wurden nach der Wende von der Treuhand privatisiert und kamen zumeist schnell in wirtschaftliche Schieflage. Böhlens Chemiekombinat Otto Grotewohl hatte eigene Probleme, ebenso die Leutzscher VEB Lacke und Farben Leipzig, später Lacufa AG. Die Spieler, die vorher bei den Betrieben angestellt waren, mussten sich neue Jobs suchen, als Sponsoren traten ehemalige Träger im Osten selten auf. In Leutzsch glaubte man zunächst, mit den Investoren, die es in die Messestadt zog, ein solides Gerüst für ein Profiteam aufbauen zu können. Sportlich lief es dann 1992/93 endlich wieder. Aus der damals drittklassigen Südstaffel der Oberliga Nordost ging der FC Sachsen als Sieger hervor. Gegen den Dresdner SC gewannen die Leutzscher den Sachsenpokal.

An der Aufstiegsrunde für die zweite Liga durfte aber nur der Tabellenzweite aus Schiebock teilnehmen, nicht der FCS. Die finanzielle Schieflage gepaart mit der Unfähigkeit, die Lizenzauflagen des DFB einzuhalten, verhinderten die Teilnahme nach einer Saison, in der lediglich zwei Spiele verlorengingen. Den Sieger jener Relegation, Union Berlin, ereilte das gleiche Schicksal, wodurch mit Tennis Borussia ausgerechnet der Verein aus dem westlichen Teil Berlins der Sprung in den Profifußball gelang.

Wieso der DFB dem FCS die Lizenz verweigerte, war damals umstritten und ist bis heute nicht vollends geklärt. Einblicke in die Zeit geben einige Artikel, die in der Tageszeitung Neue Zeit erschienen. Lest selbst:

Neue Zeit vom 05.04.1993, S. 14
Neue Zeit vom 06.05.1993, S. 16
Die Hoffnung auf den bezahlten Fußball kam drei Jahre nach der Wende zum erliegen
Neue Zeit vom 13.05.1993, S. 16
Neue Zeit vom 14.05.1993, S. 15

Wir waren Meister, wir werden’s wieder…

Der Stachel der Lizenzverweigerung saß tief. Einem Sitzstreik auf dem Platz in Gera, der von Seiten der Spielleitung gar gebilligt wurde, folgte eine Saisonabschlussfeier in Leutzsch, bei der man den Aufstieg als Ziel für die nächste Saison ausgab. Vermutlich hätte dem Verein eine tiefgreifende Aufarbeitung der Fehler gut zu Gesicht gestanden. Was folgte, waren jahrelange Episoden voller Peinlichkeiten, großer Egos und Geldprobleme. Der Hoffnung auf die Bundesliga stand der Standortnachteil, die Naivität und Unwissenheit über das neue Wirtschaftssystem, als auch eine Abwertung des ehemaligen DFV-Gebietes durch den DFB gegenüber. Alles sollte sich auf absehbare Zeit nicht ändern.